In der Gegenwart ist Herodes real

ByRedaktion

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10. Juni 2024

Gastbeitrag von Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., Universitätsprofessor i. R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.

Die beiden Wiener Juden Erich Fried und Arthur West schauen auf den israelischen Kindermord hin statt weg

Nach dem auf Befehl des deutschen Reichskanzlers Adolf Hitler (1889–1945) erfolgten Einmarsch der Deutschen in Österreich konnten die beiden Wiener Juden Erich Fried (1921–1988) und Arthur West (d.i. Arthur Rosenthal) (1922–2000) nach England flüchten. Erich Fried ist als Schriftsteller in London geblieben. Arthur West, der sich zur britischen Armee gemeldet hat, wurde 1944 bei der Landung in der Normandie eingesetzt und ist 1946 nach Wien zurückgekehrt, wo er als Kulturredakteur der kommunistischen «Volksstimme» viel für österreichische Autorinnen und Autoren getan hat. 1985 gab er das Buch «Linkes Wort für Österreich. Ein literarisches Mosaik mit Beiträgen von 80 Autoren» heraus.[1] Erich Fried und Arthur West kannten sich nicht nur, sondern blieben zeitlebens eng befreundet. Die viel zu früh verstorbene Wiener Kommunistin Lisl Rizy (1947–2022) war mit beiden befreundet und hat für deren literarische Verankerung in Österreich den Weg bereitet.[2] Im Sommer 1980 schreibt Erich Fried zu einer von Arthur West verfassten Sammlung «Die Israel Sprüche» das Vorwort. Erich Fried beginnt so: «Zu diesen Gedichten einige Worte schreiben zu dürfen, bedeutet mir viel. Nicht nur, weil ich den Dichter, seine Menschlichkeit und Konsequenz seit nahezu 40 Jahren kenne; nicht nur, weil seine Verse – nicht trotz, sondern gerade wegen ihres furchtbaren und lyrisch schwer zu vermittelnden Themas – wirkliche Gedichte sind; sondern auch, weil ich mich mit diesen Gedichten und durch sie einmal mehr mit ihrem Verfasser verbunden und solidarisch fühle. Es ist gut und es ist nötig, dass gerade ein Mensch, dessen Schicksal gerade dadurch geprägt wurde, dass er als Jude vom Hitler-Faschismus verfolgt und vertrieben wurde und gegen ihn kämpfen lernte, gegen die Verbrechen des Zionismus (nicht nur gegen die eines Begin[3]) an den Palästinensern protestiert und von der Empörung über diese Verbrechen so erfüllt ist, dass sie ihn zu Gedichten inspiriert.»[4]

«Die Israel-Sprüche» von Arthur West

Der aufgrund des Beschlusses der Vereinten Nationen vom 29. November 1947 mit 15. Mai 1948 in einer Region von Palästina gegründete Staat Israel bedeutet von Beginn an für das palästinensische Volk Degradierung, Vertreibung und Unterdrückung. Allein schon der Name Palästina wurde von den Israelis niemals anerkannt, sie blieben im Nahen Osten Brandstifter und vereitelten alle Friedensbemühungen. Das palästinensische Volk, das Brot und Frieden will, wurde eingezäunt, die Zugangstore von den Israelis kontrolliert. Arthur West dazu:

In jedem Verlies

der Menschheitsgeschichte

wird kommende

Freiheit erträumt.

Entweder

die große: im Sieg alle Kerker

zu brechen.

Oder

die kleine: in ihnen einst selber

der Kerkermeister zu sein.

Israel, warum

Träumtest du

dich nur als so

kleines Volk?

Führt Gott

in seinem himmlischen Kaufhaus

saisonbedingt nun auch

Schleuderware? Gebote

zweiter Wahl? Etwa:

Du solltest

nicht begehren Deines Nächsten

Gut? Und, preisgünstig

wie kaum sonstwo:

Du solltest

nicht töten?

Erniedrige

Deinen Gott

-Schemah Jisroel!-

nicht zum Trödler:

Du hast

keinen

zweiten. 

Wenn Du

dich auserwählt hast –

bis du darum schon

auserwählt?

Auch dazu, andere

auszuerwählen

zu einem

jüdischen Schicksal

an deiner Statt

Abraham, wer, und

Ibrahim, was

scheidet die Lager?[5]

«Höre, Israel!» Ein Weckruf von Erich Fried

Arthur West und Erich Fried vereint die Parteinahme für die Opfer. Beide verabscheuen bei allem mitfühlenden Verständnis für die oft dramatische Geschichte des Judentums den Zionismus. 1974 hat Erich Fried «gegen den furchtbaren Irrtum des Zionismus, der zum Verbrechen an den Palästinensern wurde», einen eigenen Gedichtband «Höre, Israel» veröffentlicht.[6] In seinem Zyklus von Gedichten zum Sechstagekrieg 1967 (5. Juni – 10. Juni) kann Erich Fried keinen Unterschied in der Barbarei der Deutschen gegen Juden und der Israelis gegen Palästinenser erkennen:

Nicht als Fremder und nicht als Feind

von Haß gegen euch entzündet

ich spreche als einer von euch

der auch Irrwege kennt

In den Gaskammern und in den Öfen

wo eure Familien vergingen

wurden auch meine Verwandten

vergast und verbrannt

Seither kämpfe ich gegen das

was dahin geführt hat

gegen die Mächte

die Hitler zur Macht verhalfen

Sie sind noch nicht verschwunden

von dieser Erde

und was tut ihr?

Ihr läßt euch von ihnen fördern

Sie wollen das gleiche von euch

was sie von Hitler wollten:

Ihr sollt Vorposten sein

für ihre Ordnung der Welt

Darum muß ich das Bittere sagen

in eure Ohren

die ihr im Unrecht verstopft

wie zur Zeit der Propheten

Auch wenn es bitter schwer ist

auch wenn ihr es mit Bitterkeit heimzahlt

aber ihr sollt nicht sagen können

das sagten euch nur eure Feinde

und später soll es nicht heißen:

Zur Zeit als die Juden noch siegten

sprach keiner von ihnen

gegen ihr eigenes Unrecht[7]

Erich Fried wird konkret, er weiß, dass im Sechstagekrieg von den Israelis gefangene Ägypter ihre Schuhe ausziehen mussten und barfuß in die heiße Wüste getrieben wurden. Die meisten gingen elendiglich zugrunde:

Ihr habt die überlebt

die zu euch grausam waren

Lebt ihre Grausamkeit

in euch jetzt weiter?

Eure Sehnsucht war so zu werden

wie die Völker Europas

die euch mordeten

Nun seid ihr geworden wie sie[8]

Israel führte von Anbeginn seiner staatlichen Existenz Mordaktionen an Palästinensern im Stile deutscher Spezialeinheiten durch. Erich Fried listet einige der bekannteren «Zwischenfälle mit Ortsnamen und Jahreszahlen» auf:

Deir Yassin – bis 1948

ein palästinensisches Dorf

dann 350 Tote

(nach israelischen Quellen nur 254)

Qibia am 14. 10. 53

Das ganze Dorf

Frauen und Kinder und Männer

Vergeltung für eine jüdische Frau und zwei Kinder

Ermordet in Jahud

Nach deren Mörder sogar schon

Glubb Pascha und die jordanischen Behörden

Suchten und um die Hilfe Israels baten

Die Hilfe Israels war was mit Quibia geschah

Kafr Kasern 1956

Curfew, Ausgehverbot, verkündet mitten am Tag

Die Bauern waren schon draußen auf ihren Feldern

Sie wußten nichts vom Ausgehverbot und sie kamen

Zurück von der Arbeit – da stellte man sie an die Wand

56 Menschen – Es erforderte mehrere Salven

Bahr Al Baquar 1970

Die Schule war groß, die einzige weit und breit

Überfüllt mit Kindern

ein Volltreffer für die Bombe

niemand weiß genau wieviel Kinder es waren.

Dann waren nicht mehr viel Kinder

in der Gegend von Bahr Al Baquar.

Und Abu Saabal 1970

70 Arbeiter bei einem Luftangriff

Und Nahr el Barid 1972

Wieder tote Kinder im zerschossenen Flüchtlingslager

Und 1972 auf der Straße nach Juwajeh

Im südlichen Libanon, das zerdrückte Taxi

überrollt von einem israelischen Panzer:

sieben Zivilpersonen –

ein Kind von acht Jahren

Zwischenfälle

Alles nur Zwischenfälle

Terror ist das

was Palästinenser tun[9] 

Wenige Wochen vor Pfingsten 1970 haben sich in Kairo Vertreter internationaler Friedensorganisationen und antiimperialistischer Bewegungen getroffen, unter ihnen aus Berlin der Widerstandskämpfer und Friedenskämpfer Otto Hartmut Fuchs (1919–1987).[10] Otto Hartmut Fuchs war führendes Mitglied des 1964 gegründeten Berliner Friedensforums Europäischer Katholiken. In der «Neuen Zeit», welche die Zeitung der Christlich-demokratischen Union Deutschlands in der Deutschen Demokratischen Republik war, schreibt Otto Hartmut Fuchs über die erschütternde Besichtigung des Dorfes Bahr el Bakr: «Seine Schule – gelegen auf dem Gelände einer modernen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft – war knapp zehn Tage zuvor [d. i. 8. April 1970] durch Bomben israelisch-amerikanischer ‘Phantom’-Maschinen dem Erdboden gleichgemacht worden. Wir sahen noch die zerbombten Schiefertafeln, zerfetzten Schreibhefte und Lesebücher, zerrissene Schuhe und Kleidungsstücke. Die Tränen der Eltern und Geschwister, die Blicke der gräßlich verstümmelten Kinder im Krankenhaus von Bahr al Bakr bedeuteten uns mehr als Worte … Wer zu solchen Verbrechen schweigt, klagt sich selbst der Mitschuld an (höre man es in Bonn!). Und wer hier von ‘militärischen Objekten’ spricht, setzt die faschistische Lügenpropaganda der Goebbels[11] u. Co. fort.»[12] Und was sehen heute, am 6. Juni d. J., mitfühlende Menschen nach dem israelischen Angriff auf eine Schule des Palästinenserhilfswerkes der Vereinten Nationen im Gazastreifen?[13] 

Bekannt gewordene und unbekannt gebliebene «Zwischenfälle» der israelischen Armee haben jahraus jahrein blutige Opfer in der palästinensischen Bevölkerung bis heute gefordert.[14] Deutschland und Österreich schweigen wie andere westliche Länder zu diesem erbarmungslosen Vorgehen der Israelis, weil die Parteinahme für Israel als Staatsräson erklärt wurde. Sie schweigen dazu wie zu den Greueltaten des von Israel aktiv unterstützen US-Imperialismus in Zentral- und Lateinamerika und Afrika, weil ihre Reichen und Eliten davon profitieren. Israel beteiligt sich seit Anbeginn an der Niederschlagung von Volksbewegungen durch materielle Unterstützung und militärische Beratung konterrevolutionärer Kräfte.[15] Im Auftrag der US-Amerikaner boykottiert Israel Kuba oder bombardiert mit deren Duldung immer wieder Ziele im Irak.

Erich Fried erinnert an die in der Bibel niedergeschriebene Erzählung über den von Herodes (dem Großen) angeordneten Kindermord in Betlehem, einer Stadt 8km südlich von Jerusalem, in der Jesus von Nazareth vor 4. v. u. Z. geboren ist. Dessen Familie musste mit dem Neugeborenen vor dem von Herodes anbefohlenen Kindergemetzel nach Ägypten fliehen. Herodes herrschte 33 Jahre (37- 4 v. u. Z.) als König der Juden. Er hat den 70 n. u. Z. wieder zerstörten Tempel von Jerusalem neu erbauen lassen und blieb in allem ein getreuer, gewaltbereiter Vasall des römischen Imperiums.[16] Für den 1935 nach Palästina ausgewanderten deutschen Juden Josef Kastein (d.i. Julius Katzenstein) (1890–1946) gehört der jüdisch gläubige Herodes aber «nur äußerlich zum Judentum». Nach Kastein ist «Herodes der, der vom Geist des Judentums nicht einen Hauch verspürt hat und dem, was seine Gemeinschaft glaubt und hofft und will, mit der überlegenen Fremdheit dessen begegnet, der seinen Bedarf an Geist, Gesinnung und Kultur jenes der Grenzen befriedigt»[17].

Der Apostel und Evangelist Matthäus überliefert den Kindermord in Betlehem (2,16–18): «Als Herodes merkte, dass ihn die Sterndeuter getäuscht hatten, wurde er sehr zornig und er ließ in Betlehem und der ganzen Umgebung alle Knaben bis zum Alter von zwei Jahren töten, genau der Zeit entsprechend, die er von den Sterndeutern erfahren hatte. Damals erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist: Ein Geschrei war in Rama zu hören, / lautes Weinen und Klagen: / Rahel weinte um ihre Kinder / und wollte sich nicht trösten lassen, / denn sie waren dahin.»[18]

Für Erich Fried ist der Kindermord von Betlehem allgegenwärtig, in Israel und Palästina wie auf der ganzen Welt. Der aus Lateinamerika stammende Papst Franziskus (*1936), der wiederholt einen Waffenstillstand im Gaza-Streifen fordert, denkt wie der Wiener jüdische Humanist Erich Fried: «Menschen wie Herodes zerstören auch heute die Arglosigkeit von Kindern durch Sklavenarbeit, Prostitution und Ausbeutung, Kriege und Zwangsmigration».[19] Papst Franziskus berührt das Leider der palästinensischen Kinder ebenso wie jenes der Kinder z. B. in dem an Bodenschätzen wie Kobalt ungemein reichen Kongo, wo laut UNICEF 42 Prozent der Kinder unterernährt sind, weil die Eliten vom imperialistischen Westen korrumpiert sind.[20] Die Zivilisation des Reichtums beutet die armen Völker weltweit erbarmungslos aus. Ist eine andere Welt möglich, ist eine Zivilisation der Geschwisterlichkeit möglich, wie eine solche von den im Auftrag des US-Imperialismus ermordeten lateinamerikanischen Befreiungstheologen in El Salvador vorgedacht wurde? Der historische Prozess muss wieder eine revolutionäre Gestalt einnehmen, denn den Armen, Unterdrückten und Hungernden wird die Vertröstung auf eine Transformation des Imperialismus keine Heilung bringen.[21] Erich Fried: 

Jetzt ist wieder ein Kinder verhungert

Jetzt ist wieder ein Kind verhungert

Diesen Satz kannst du sagen

sooft du willst

Während du ihn sagst

verhungert wieder ein Kind

denn du brauchst zu dem Satz

etwa zweieinhalb Sekunden

Das ist ungefähr richtig

denn 12 Millionen Kinder

verhungern in jedem Jahr

Jetzt ist wieder ein Kind verhungert[22]

Die Gegenwart von Palästina seit dem 7. Oktober 2023

Betlehem heißt auf Deutsch «Haus des Brotes». Die Menschen in Gaza und im Westjordantal hungern und dürsten, weil die Israelis das wollen. Am 1. Mai d. J. schreibt James Elder (United Nations Children’s Fund) im Guardian: „In Rafah sah ich, wie sich neue Friedhöfe mit Kindern füllten. Es ist unvorstellbar, dass das Schlimmste erst kommen könnte. Das europäische Krankenhaus ist überfüllt mit schwer verletzten und sterbenden Kindern. “[23] Israels Herrscher töten mit ihren Soldatinnen und Soldaten tagtäglich palästinensische Frauen und Kinder.

Vor etwas mehr als 80 Jahren hat der Russe Bespalow in Charkow beim Kriegsgericht der Vierten Ukrainischen Front (15.–18. Dezember 1943) über die Bestialität von Deutschen ausgesagt: «Ich sah, wie nach einem Feuerstoß aus einer Maschinenpistole einige Frauen, taumelnd und hilflos die Hände ringend, mit herzzerreißenden Schreien den Deutschen entgegengingen. Die Deutschen erschossen sie in diesem Augenblick aus ihren Pistolen … Vor Angst und Schmerz fassungslose Mütter drückten ihre Kinder an die Brust und liefen, entsetzlich jammernd und Rettung suchend, auf der Wiese umher. Die Gestapoleute rissen ihnen die Kinder aus den Armen, packten diese an den Beinen oder Armen und schleuderten sie lebend in die Grube, und als die Mütter den Kindern zur Grube nachliefen wurden sie erschossen».[24]

Ahmed Aziz aus Rafah und Huthifa Fayyad berichten als Augenzeugen am 27. Mai 2024 nach der Bombardierung des palästinensischen Flüchtlingslager Rafah: „Nach Sonnenaufgang kehren die Überlebenden des israelischen Bombenangriffs auf ein Flüchtlingslager in Rafah zurück, um den Schaden zu begutachten. Kinder spähen durch das Fenster eines ausgehöhlten Autos, Männer durchsuchen die verbrannten Trümmer und Journalisten machten Fotos von den geschwärzten Konservendosen. Etwa 12 Stunden zuvor befanden sich palästinensische Familien in diesen Zelten, die nach der Bombardierung des Lagers im Nordwesten von Rafah durch das israelische Militär in Flammen aufgegangen waren. Viele hatten gerade das Nachtgebet beendet, einige schliefen und andere waren einfach mit ihren Familien zusammen. ‚Wir saßen friedlich zusammen, als wir plötzlich die Explosion hörten‘, sagte Layan al-Fayoum, eine Überlebende des Angriffs. ‚Es kam so plötzlich. Die Bomben fielen ohne Vorwarnung.‘ Die junge Frau stürzte aus ihrem Zelt, um zu sehen, was passiert war, und war schockiert über das große Inferno, das den Ort verschlungen hatte. ‚Die Flammen waren riesig‘, sagte sie gegenüber Middle East Eye. ‘Wir sahen brennende Zelte und mussten dann abgetrennte Gliedmaßen und tote Kinder bergen.‘ Der Angriff fand am Sonntag gegen 22 Uhr Ortszeit statt. Israelische Kampfflugzeuge warfen Bomben auf das behelfsmäßige Lager ab, wodurch einem Augenzeugen zufolge ein Feuer entstand, das etwa 14 Zelte in Brand setzte. Das Lager befindet sich in der von Israel ausgewiesenen ‚humanitären Zone‘ in der Nähe eines UN-Lagers, wie Al Jazeera Arabic berichtet. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministers wurden bei dem Angriff 45 Menschen getötet. Weitere 249 wurden verletzt, einige davon schwer, darunter Menschen mit schweren Verbrennungen und abgetrennten Gliedmaßen. Gesundheitsbeamte sagten, sie seien mit der Menge und der Art der Verletzungen überfordert, da aufgrund der israelischen Zerstörung des Gesundheitssystems im gesamten Gazastreifen nur noch ein Krankenhaus in Rafah in Betrieb ist. Ersthelfer beschrieben ähnliche Herausforderungen, da 80 Prozent der palästinensischen Zivilschutzkapazitäten seit dem 7. Oktober zerstört worden sind. Dies zeigte sich auch nach dem Bombenanschlag deutlich, als Feuerwehrleute, Sanitäter und Anwohner darum kämpften, das Feuer einzudämmen. Es kam zu chaotischen Szenen, bei denen die Überlebenden in Panik zwischen den verkohlten Körpern um ihre Sicherheit rannten, während ein Mann ein kopfloses Kind hielt und ein Sanitäter ein anderes mit ausgetretenem Gehirn trug. ‚Ich kam aus meinem Zelt heraus und sah überall Feuer‘, sagte Mohammad Abo Sebah, ein Augenzeuge. ‚Ein junges Mädchen schrie, also halfen wir ihr und ihrem erwachsenen Bruder. Als wir zurückkamen, war das Lager völlig zerstört.‘[…] Das israelische Militär erklärte, es habe bei dem Angriff ‚präzise Munition‘ verwendet, um angeblich zwei Mitglieder des bewaffneten Flügels der Hamas zu töten.“[25]

Die „Großaktion Warschau“ unterscheidet sich in nichts von der „Großaktion Gaza“, beide Verbrechen haben ihre Vorgeschichte. Der polnische Prozess (1951) gegen den deutschen Henker von Warschau Jürgen (Josef) Stroop (1895–1952) wird sich von einem Prozess des seit 2002 tätigen, vom Schurkenstaat USA nicht anerkannten Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag gegen den israelischen Henker von Gaza Benjamin Netanjahu nicht unterscheiden können. Südafrika hat vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Israel wegen Völkermord Klage erhoben. Aus Europa haben sich dieser Klage Spanien, Irland und Norwegen angeschlossen und die Palästinensergebiete als unabhängiges Land anerkannt. Der Deutsche Jürgen Stroop hatte wegen der anbefohlenen Morde im Warschauer Getto keine Gewissensbisse, weil es sich um die „mindere Rasse“ Juden gehandelt hat.[26] Der Israeli Netanjahu ordnet die Morde in Gaza an, weil es sich um die „mindere Rasse“ Palästinenser handelt.

Am Beginn des palästinensischen Leidensweges steht für Erich Fried das israelische Massaker im palästinensischen Dorf Deir Yassin (9. April 1948):

Ich habe gelesen

vom Palästinenserdorf Deir Yassin

Zweihundertvierundfünfzig

fast nur Frauen und Kinder und Alte

die ermordet wurden

von den Einheiten Léchi und Etzil

unter Joschua Zetler

und Mordechai Ra‘anán

[…]

Wir Juden sind groß

so groß wie die größten Völker

Wir haben Marx und Heine

Und Freud und Einstein

Wir haben Meir-Har-Zion

den großen Arabertöter

und Mordechai Ra’anán

und Joschua Zetler

die Sieger von Deir Yassin

die jeden Vergleich bestehen

mit Leutnant William Calley

dem Besieger des Dorfes My Lai

und Jürgen Stroop, SS

dem Besieger des Warschauer Ghettos[27] 

Der katholische Befreiungstheologe Daniel Berrigan SJ (1921–2016), der wegen seines Protests gegen den US-amerikanischen Völkermord in Vietnam als erster katholischer Priester von der US-Justiz in das Gefängnis geworfen wurde, war nach einer Reise in den Nahen Osten über die Tatsache entsetzt, dass Israel die Kinder der Palästinenser faktisch für wertlos hielt.[28] Der Ausbruch des militärisch operierenden Teiles der Hamas am 7. Oktober 2023 aus dem von Israel durch einen bedrohlichen Grenzzaun seit Jahrzehnten isolierten und erniedrigten Gaza-Streifen war vom Ansatz her eine legitime militärische Aktion, aber leider mit nicht zu entschuldigten, vielleicht sogar ungeplanten Exzessen an feiernden Jugendlichen und Zivilpersonen verbunden. Für Israel bot das einen willkommenen Anlass, als Rache die «Endlösung» in Gaza mit Vertreibung und Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung zu betreiben. Der Gazastreifen soll «jüdisch» wiederbesiedelt werden. Verzweifelt schreit der Schriftsteller Mosab Abu Toha am 5. Juni 2024 auf. Sein Schrei bleibt nicht nur in dem sich nach den europäischen «Werten» ausrichtenden Österreich ungehört: «Sie [die Israeli] forderten alle auf, den Norden zu evakuieren. Das taten viele. Und sie sagten allen, sie sollten Rafah evakuieren. Und das taten viele. Und jetzt bombardieren sie ununterbrochen und massiv das mittlere Gebiet. Und so viele sterben. Ich habe diese SOS-Nachricht bekommen: „Wir sind die Familie von Mahmoud Joudah. Wir leben in der Zaafaran Straße in Maghazi. Wir stecken unter den Trümmern fest.“«[29]


[1] Globus Verlag Wien 1985. 

[2] Willi Weinert: Lisl Rizy Lisl Rizy (1947–2022) – Zeitung der Arbeit; Otto Bruckner und Tibor Zenker: In Erinnerung an Lisl Rizy Lisl Rizy (1947–2022) – Zeitung der Arbeit 

[3] Menachem Begin (1913–1992)

[4] Die Israel Sprüche von Arthur West. Für Lika und Wolf Ehrlich und ihre (und meine) unbeugsamen Genossen A. W. edition schwarzdruck. Berlin 1997. Lika und Wolf Ehrlich waren Funktionäre der Kommunistischen Partei Israels. Das Exemplar Nr. 63 von 300 durchnummerierten Exemplaren ist mit der handschriftlichen Widmung im Privatbesitz: „Für Anja, Karin und, last not least, Gerhard Oberkofler in alter Verbundenheit. Arthur West. 1. Mai 99“. Erstausgabe bei Frischfleisch & Löwenmaul, Wien 1980. 

[5] Zitiert nach der edition schwarzdruck (ohne Seitenzählung). 

[6] Erich Fried: Höre Israel! Gedichte und Fußnoten. Verlag Association. Alsterdruck Hamburg 1974; Erich Fried: Gesammelte Werke. Herausgegeben von Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach. Gedichte 2. Verlag Klaus Wagenbach Berlin 1998. Vgl. Christoph Gellner: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2004, S. 95–109 (Die Bibel möchte ich immer wieder lesen. Erich Fried).

[7] Fried, Gesammelte Werke, Gedichte 2, S. 117 f.

[8] Ebenda, S. 123.

[9] Fried, Gesammelte Werke, Gedichte 2, S. 127 f.

[10] Abschied von Otto Hartmut Fuchs. Neue Zeit vom 16. April 1987.

[11] Joseph Goebbels (1897–1945)

[12] Neue Zeit vom 17. Mai 1970.

[13] ORF vom 6. Juni d. J.

[14] Vgl. z. B. Über die „Sonderbehandlung“ des palästinensischen Volkes und ihre Widerspiegelung in der „Freien Presse“ Österreichs – Zeitung der Arbeit

[15] Vgl. Marc H. Ellis: Zwischen Hoffnung und Verrat. Schritte auf dem Weg einer jüdischen Theologie der Befreiung. Edition Exodus Luzern 1992, hier bes. S. 93. 

[16] Jerusalemer Bibellexikon. Hg. von Kurt Hennig. 3., korr. Auflage Hänssler Verlag Neuhausen-Stuttgart, S. 332–334.

[17] Josef Kastein: Herodes. Die Geschichte eines fremden Königs. R. Löwit Verlag Wien und Jerusalem 1936, hier S. 386; ähnlich Samuel Sandmel: Herodes. Bildnis eines Tyrannen. W. Kohlhammer Verlag Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1968. 

[18] Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Psalmen und Neues Testamet. Ökumenischer Text. Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH. 12. A. 2015, S. 1077. 

[19] Papst Franziskus beklagt Ausbeutung von Kindern – Vatican News

[20] Mehrere Artikel in http://www.allewelt.at

[21] Jon Sobrino SJ: „Die Geschichte vom Kopf auf die Füße stellen“. Concilium 40 (2004), S. 615–623.

[22] Fried, Gesammelte Werke, Gedichte 2, S. 555 f.

[23] https://www.theguardian.com/commentisfree/2024/may/01/

[24] Deutsche Greuel in Russland. Gerichtstag in Charkow. Stern-Verlag Wien 1945, hier S.15.

[25] https://www.middleeasteye.net/news/headless-child-charred-bodies-survivors-recount-israels-rafah-camp-massacre

[26] Kazimierz Moczarski: Gespräche mit dem Henker. Verlag der Nation Berlin 1981.

[27] Fried, Gesammelte Werke, Gedichte 2, S. 124 f.

[28] Vgl. Gerhard Oberkofler: Friedensbewegung und Befreiungstheologie. Marxistische Fragmente zum Gedenken an den Friedenskämpfer Daniel Berrigan SJ (1921–2016). trafo Verlagsgruppe Dr. Wolfgang Weist. Berlin 2016; Thich Nhat Hanh / Daniel Berrigan: Das Boot ist nicht das Ufer. Gespräche über buddhistisch-christliches Bewusstsein. Wilhelm Goldmann Verlag München 2001.

[29] Eine von vielen Presseaussendungen der Palästinensischen Botschaft in Wien vom 6. Juni 2024.

Опубликовано lyumon1834

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