Zum heutigen 75. Jubiläum des Grundgesetzes spricht Apollo News mit Rupert Scholz über die Geringschätzung der Verfassung — und die historische Weitsicht ihrer Väter. Wollte man ein Interview mit dem Rechtsstaat selbst machen, ist ein Gespräch mit ihm wohl das, was dem am nächsten käme.

Elisa David
 @ElisaDavid

er 23. Mai 1949 ist der Tag, an dem das Grundgesetz unterzeichnet und die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Heute vor 75 Jahren. Es ist auch der Tag an dem Rupert Scholz 12 Jahre alt wurde. Er ist am 23. Mai 1937 in den Krieg hineingeboren. Seine ersten Lebensjahre waren durch Zerstörung gezeichnet, er wuchs in den Trümmern Berlins auf. Er hatte an seinem 12. Geburtstag unmöglich wissen können, welche Bedeutung dieser Tag noch viele Jahrzehnte später haben würde. Was für ein Wohlstand aus den Ruinen entstehen, wie sicher, gerecht und freiheitlich die Bundesrepublik Deutschland werden würde. Und schon gar nicht hatte er erahnen können, dass er an diesem Fortschritt teilhaben würde.

Heute ist Professor Rupert Scholz der wohl renommierte Staatsrechtler des Landes. Er gehörte der ersten Generation deutscher Juristen an, die nicht dem Nationalsozialismus entstammte, habilitierte und unterrichtete so die nächsten Generationen. Als Mitautor und -herausgeber des führenden Grundrechtskommentars beeinflusst er seit Jahrzehnten heranwachsende und praktizierende Juristen bis hin zum Bundesverfassungsgericht. Er gestaltete unseren Rechtsstaat juristisch – aber auch politisch. In einem geteilten Berlin war er Senator für Justiz und Bundesangelegenheiten, Bundesverteidigungsminister zu Zeiten des Kalten Krieges und Mitglied des ersten gesamtdeutschen Bundestages, Vorsitzender der Gemeinsamen Verfassungskommission und später des Rechtsausschusses des Bundestages.

Der juristische und politische Werdegang von Rupert Scholz ist mit dem der Bundesrepublik und des Grundgesetzes eng verwunden und kreuzt sich nicht selten. Scholz ist Zeitzeuge jeder Phase der Bundesrepublik Deutschland, nicht selten aus der ersten Reihe. Wollte man ein Interview mit dem Rechtsstaat selbst machen, ist ein Gespräch mit ihm wohl das, was dem am nächsten käme.

Apollo News: Das Grundgesetz ist jetzt seit 75 Jahren in Kraft. Seitdem lebten darunter Menschen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, so wie Sie den zweiten Weltkrieg, später auch Menschen, die vorher in der DDR gelebt hatten. Heute gibt es Menschen wie mich, die gar nichts anderes als das Grundgesetz und ein vereintes Deutschland kennen. Würden Sie sagen, dass sich die Wertschätzung über die Zeit hinweg gewandelt hat? 

Rupert Scholz: Ich glaube, dass wir großes Glück haben, anlässlich dieses 75. Geburtstags des Grundgesetzes, weil es wirklich auch die Bevölkerung immer gut erreicht hat. Es war eine und ist eine grandiose Verfassung, die auch international anerkannt ist. Was damals 1949 geleistet wurde, ist wirklich historisch. 

Wenn Sie auch zum Beispiel an die Situation ’89, ’90 denken, dann der Beitritt der DDR zum Grundgesetz, die Entscheidung der ersten freigewählten Volkskammer für das Grundgesetz. Das ist auch heute in einer klaren Mehrheit der Bevölkerung in Ost und West durchaus noch lebendig. Natürlich gibt es immer auch Kritiker, das ist auch völlig normal und das ist auch legitim. Aber die grundsätzliche Akzeptanz dieser Verfassung ist nach wie vor voll in Takt. 

Der Geburtstag des Grundgesetzes findet als großes Jubiläum dieses Jahr in Presse und Politik besonders viel Beachtung. Das ist aber fast ausschließlich mit Forderungen verbunden, es zu überarbeiten, zu ergänzen und an die heutige Zeit anzupassen. Ist das angemessen? 

Zunächst mal ist ja das alte Spiel von Journalisten „Bad news is good news“, nicht? Nein, das Grundgesetz als solches ist ja 1990 überprüft worden auf Gefahrenbedürftigkeit. Das ist im Einigungsvertrag zwischen der freigewählten Regierung der DDR und der Bundesregierung vereinbart worden. Darauf wurde damals eine gemeinsam von Bundestag und Bundesrat bestückte Verfassungskommission eingesetzt. Dieser Kommission habe ich damals vorgesessen. 

Wir haben auch beim Föderalismus einiges damals geändert, Stärkung der Länder, weil die Zentralgewalt Bund in manchen Bereichen kompetenziell zu stark geworden ist, aber das sind im Grunde die maßgebenden Daten gewesen und wenn ich die heutige Situation nehme, kann ich nicht erkennen, dass Vergleichbares an Reformbedürftigkeit besteht.

Aber es ist ja schon so, dass man das Grundgesetz sehr weit auslegen kann. Heutzutage wird das etwa genutzt – man könnte auch sagen ausgenutzt – um die eigene politische Agenda daraus abzuleiten. Würden Sie nicht sagen, dass hier auch ein Missbrauchspotential besteht? 

Es ist in der Verfassungspolitik immer wieder wichtig: Wenn man eine Verfassung macht, muss sie für die Zukunft offen sein, für den Wandel der politischen und ökonomischen Lebensverhältnisse. Das war eine der großen Weisheiten des Parlamentarischen Rats seiner Zeit, dass man sich in vielen, gerade in gesellschaftspolitisch relevanten Feldern, das nötige Maß an gestaltungsmäßiger Offenheit für die Zukunft bewahrt hat. Das war eine große Stärke. 

Das wird deutlich, wenn man auf die Weimarer Verfassung schaut, die ja auch eine demokratische Verfassung war, die nur dann eben tragisch im Nationalsozialismus gescheitert ist. Liest man die Weimarer Verfassung auf dem Papier würden viele sagen: Oh, da stehen ja wunderbare Dinge drin. Aber diese Verfassung war zu wenig offen. Die war zu sehr momentan an bestimmten, greifbaren Problemen aus der damaligen Zeit, 1919, orientiert und hat damit ihre Gestaltungsfähigkeit und Zukunftsorientierung in hohem Maße eingebüßt. 

Schätzt denn die Regierung die Verfassung ausreichend wert? 

Ob sie die wertschätzt? Das könnten Sie die Ampel-Regierung fragen und die würde sagen:Selbstverständlich! Aber auch hier sind natürlich inzwischen große verfassungsrechtliche Probleme entstanden. Ich verweise nur auf die Nicht-Einhaltung der Schuldenbremse, was eindeutig eben vom Bundesverfassungsgericht auch als Verfassungsverstoß gerügt worden ist. Und gerade im Bereich der Finanzverfassung muss man große Bedenken haben muss, ob das Verfassungsverständnis der Ampel-Koalition hinreichend intakt ist. 

Solche Probleme haben wir ja an verschiedenen Stellen und Behörden, auch etwa dem Verfassungsschutz. Ist nicht vielleicht grundsätzlich der Respekt vor der Verfassung geschwunden?

Es gibt in der Tat bedenkliche Entwicklungen, gerade beim Verfassungsschutz, etwa das, was sich der jetzige Präsident Haldenwang erlaubt, wenn er zum Beispiel sagt, dass er Maßnahmen gegen die Meinungsfreiheit, auch jenseits des Strafrechts, ergreifen könne.

Die Meinungsfreiheit, ein elementares Grundrecht unserer Demokratie, im Artikel 5 Grundgesetz festgeschrieben, garantiert jedem, seine freie Meinung zu entwickeln, zu haben und zu äußern, bis an die Grenze des Strafrechts. Und das hat auch immer funktioniert und ist auch völlig akzeptiert worden. Aber die Äußerung heute, die man etwa von einem Herrn Haldenwang hört oder auch von Frau Faeser, dass man eben auch unterhalb und jenseits des Strafrechts mit Verfassungsschutzmitteln vorgehen müsse – etwa unter Stichwort Delegitimierung des Staates. Was soll das sein? – das ist Unfug, um es mal ganz deutlich zu sagen. Und da sind bedenkliche Entwicklungen aus der Sicht der Meinungsfreiheit, des Grundrechts aus Artikel 5 GG. 

Manch einer schaut heute nostalgisch auf die Politiker Ihrer Zeit zurück – und hat manchmal das Gefühl, dass es Politikern von heute an soetwas wie Pflichtbewusstsein fehlt. Woran liegt das? Würden Sie sagen, dass man Wohlstand und Demokratie nur wirklich wertschätzen kann, wenn man wie Sie Faschismus und Krieg erlebt hat?  

Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann, aber eines ist an dem, was Sie sagen, richtig. Wenn man jetzt 75 Jahren zurückdenkt, an den parlamentarische Rat damals unter dem Vorsitz des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, dann waren das alles Politiker, die das Scheitern der Weimarer Verfassung erlebt hatten, den Nationalsozialismus glücklicherweise überlebt haben und die aus diesen Erfahrungen heraus dann dieses Grundgesetz geschaffen haben.

Und die vor allem auch das richtige politische Bewusstsein in dem Sinne hatten, dass sie etwas wirklich Stabiles schaffen müssen, was Demokratie, was Rechtsstaat, auch Bundesstaat und Sozialstaat angeht und dass da auch bestimmte Unabänderlichkeitsgarantien nötig sind, wie man sie heute im Artikel 79 GG wiederfindet. Das ist eine Generation gewesen, der man auch in diesem Sinne sehr dankbar sein muss, was sie damals geleistet und auch vorhergesehen haben. 

Sie haben einmal gesagt, dass Sie früher eigentlich Journalist werden wollten, aber ein Freund der Familie Ihnen geraten hatte, dass Sie lieber etwas Vernünftiges machen sollte. Ich bin ja selbst Jurastudentin und arbeite als Journalistin. Deshalb interessiert mich besonders: Bereuen Sie das manchmal? 

Ja, das ist richtig, als ich Abitur gemacht habe, wollte ich Journalist werden. Aber dann hat ein Freund der Familie gesagt: Kannst du ja machen, aber erstmal was ordentliches studieren. Da wurde mir dann die Juristerei empfohlen und darum habe ich mein Jura-Studium aufgenommenen, dann war auch schnell der Traum vom Journalismus erledigt. Ich bin begeisterter Jurist und Verfassungsrechtler geworden und dann gab es auch häufig Leute, die gesagt haben, wer am 23. Mai geboren ist, am Verfassungstag, der muss natürlich auch Verfassungsrechtler werden, das ist dir in die Wiege gelegt. 

Sie sind in die Politik eher reingerutscht, könnte man sagen. Sie waren zu Beginn Ihrer Karriere noch parteilos, Sie sind Bundesminister ohne Bundestagsmandat geworden. In welcher Rolle fühlen Sie sich wohler – der des Staatsrechtler oder des Politikers? 

Meine eigentliche Profession ist der Staatsrechtler, der Verfassungsrechtler, als Professor ist das mein Beruf und das ist natürlich das entscheidende. Ich bin dann ja in der Tat zunächst von Richard von Weizsäcker hier in den Berliner Senat berufen worden, war hier Justizsenator und Senator für Bundesangelegenheiten, aber damals war ich noch gar nicht mal in der CDU. Und später, das ist auch fast genauso überraschend für mich, hat mich Helmut Kohl zum Verteidigungsminister gemacht. 

Ich habe beides gerne und ich habe beides im besten Bemühen, verantwortlich zu handeln, gemacht. Aber für mich war immer klar: Berufspolitiker will ich nicht werden. Und das ist etwas, was ich auch an der heutigen Politiker-Generation immer kritischer sehe. Die meisten heute sind Berufspolitiker, das heißt die Politik ist ihr Beruf, manche haben überhaupt keinen Beruf gelernt, gucken Sie sich das Bundeskabinett an, da sitzen abgebrochene Studenten, die nie ernsthaft gearbeitet haben – das ist nicht gut für ein verantwortliches Politikverständnis und das macht vor allem abhängig. 

In der Politik muss man auch persönlich nicht nur verantwortlich in dem Sinne sein, dass man seinen Job gut macht, um das salopp zu formulieren, sondern man muss vor allem auch beruflich, ökonomisch unabhängig sein, das heißt man darf nicht von der Politik abhängig werden. 

Würden Sie sagen, dass es heutzutage zu viel um Parteipolitik geht?

Ja, das kann man in einem gewissen Sinne sagen. Wenn ich wieder auf das Grundgesetz schaue, da haben wir den Artikel 21 GG, der die Freiheitsgarantie für die politischen Parteien enthält und der vor allem eben auch verfügt, dass die Politischen Parteien an der demokratisch-politischen Willensbildung des Volkes teilnehmen. Das ist eine sehr wichtige und moderne Entscheidung gewesen, 1949, auch hier hatte man aus dem Scheitern von Weimar gelernt. 

In Weimar wurden die politischen Parteien sozusagen noch negiert. Man hat sie eigentlich gar nicht in dem Sinne verfassungsrechtlich anerkannt. Das hat auch gerade dazu geführt, dass radikale Parteien, die Nationalsozialisten, die Kommunisten, sich so stark entwickeln konnten. Daraus hat man die Konsequenz beim Grundgesetz gezogen. Und hat zugleich verfügt, dass Parteien zur Verfassungstreue verpflichtet sind und wenn sie das nicht einhalten, auch verboten werden können. Das war eine kluge und richtige Entscheidung. 

In der Praxis ist es natürlich auch so geworden heute, das muss man durchaus anerkennen, dass die Macht der politischen Parteien auch über das Wahlrecht sehr stark geworden ist und dass man da manches auch kritisch sehen kann.

Vor allem beim Wahlrecht, wenn man an das Listenwahlrecht denkt. Wo es um Direktmandate geht, geht es zunächst um die Person, um den konkreten Kandidaten oder die Kandidatin, die da kandidieren. Aber über das Listenwahlrecht entscheiden die Parteien darüber, wer ins Parlament kommt und auch das Gesamtwahlergebnis hängt vom Listenwahlrecht ab, wie die Parteien listenmäßig, mehrheitsmäßig oder minderheitsmäßig abgeschnitten haben. Ich bin deshalb auch der Meinung, dass wir dieses Wahlrecht reformieren sollten und die Macht der Parteien gerade im Bereich der Zweitstimmen etwas reduzieren sollten.  

Sie haben bereits angesprochen, dass die Politik missbraucht wird, von Menschen, die keine Berufsausbildung haben oder in der freien Marktwirtschaft gescheitert sind. Kann man gegen diese Entwicklung gegensteuern? 

Bundestagsmandate, man denken nur an die Diäten, sind für viele attraktiver geworden, als einen Beruf zu ergreifen. Das ist bedauerlich und das ist auch für die Demokratie letztlich schädlich. Aber dem kann man schwer entgegenwirken. Denn nach Artikel 38 GG, das Grundprinzip unseres Wahlrechts, hat jeder Mensch – egal ob er einen Beruf hat oder welchen Beruf er hat oder ob er gar keinen Beruf hat oder ob er einen besonderen Beruf hat oder wie immer sonst – natürlich das Recht, sich auch um politische Mandate zu bemühen. 

Aber man würde sich ja schon wünschen, dass das Land nur von den Besten regiert wird.

Ja, das ist das Problem. Natürlich würde man sich wünschen, dass man möglichst auch im Privatleben erfolgreiche oder jedenfalls gut ausgebildete, geschulte Persönlichkeiten findet, die dann ins Parlament kommen. Das ist aber eine Vorstellung, die leider eine politische Wunschvorstellung ist. Denn das demokratische Wahlrecht basiert auf der Wahlgleichheit, da sind alle Menschen gleich, ob mit Beruf, mit Qualifikation oder ohne Beruf und ohne Qualifikation. Das ist so und das wird man auch nicht ändern können. Da muss man im Grunde auf die Parteien appellieren, dass die mal solche Kandidaten aufstellen, die diese Voraussetzungen erfüllen. 

Es gibt zum Beispiel eine Partei in Deutschland, das ist die AfD, die ja, und das fand ich immer sehr positiv, bei der Aufstellung ihrer Kandidaten für Wahlen, Landtag, Bundestag und so weiter, immer darauf geachtet hat, dass die entsprechenden Kandidaten eine Berufsausbildung haben. Das finde ich richtig.

Vielen Dank für das Interview!

Опубликовано lyumon1834

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